Hirse und Buchweizen in der Ernährung für Hochsensible
Warum hatten unsere Vorfahren kein Problem mit Gluten?
Hochsensible Gedanken zu Gluten und Kulturgeschichte von Hirse und Buchweizen
Immer wieder werde ich darauf angesprochen, ob die Glutensensitivität vieler Hochsensibler nicht doch vom Glyphosat oder modernen Weizensorten usw. kommen würde. Liebe Hochsensible, die mit der Hochsensibilität verbundene Form der Glutenintoleranz beruht offenkundig auf der Wirkung auf das Dopaminsystem und ist genetisch bedingt. Und Gene verbreiten sich nicht in Jahrzehnten sondern Jahrtausenden in der Bevölkerung. Warum also hatten unsere Vorfahren damit kein Problem?
Neben dem Reis haben sich Hirse und Buchweizen in der Ernährung hochsensibler Menschen einen festen Platz erobert als glutenfreie (Pseudo-)Zerealien. Doch während der Reis auch einen festen Platz in der mitteleuropäischen Küche ganz allgemein hat, sind Hirse und Buchweizen dort heutzutage absolute Randerscheinungen. Und hier haben sich die Ernährungsgewohnheiten seit dem 19. Jahrhundert komplett auf den Kopf gestellt, denn …
Bis in die Neuzeit hinein war Hirse in Süd- und Ostdeutschland und anderen Regionen ein Grundnahrungsmittel. Allerdings reifte hier nicht Goldhirse, wie sie uns aus Kunststoffverpackungen entgegenleuchtet. Auf den Feldern unserer Ururgroßeltern wogte Rote Rispenhirse im Sommerwind. Mir ist noch vor etwa 20 Jahren von einer älteren Dame aus der Gegend von Bogen (Niederbayern) erzählt worden, dass ihre Familie noch bis nach dem 2. Weltkrieg Hirse angebaut hätte und dies eine tägliche Kost in ihrer Herkunftsfamilie gewesen wäre. Dies sind sozusagen die letzten Ausläufer des Hirseanbaus in Süddeutschland. Sucht man heute nach Roter Rispenhirse, landet man beim Vogelfutter oder im Bauernhofmuseum.
Ein ähnliches Schicksal hat der Buchweizen erlebt. Buchweizen wurde vor allem dort angebaut, wo die Sommer zu kurz oder die Böden zu schlecht für Getreide sind. So war zum Beispiel die Lüneburger Heide mit ihren Sandböden eine Buchweizen-Region. Auch in der Steiermark hat sich der Buchweizen noch erhalten. Abgesehen von solchen Traditionsinseln ist der Buchweizen jedoch ebenso verschwunden aus der modernen Esskultur wie die Hirse.
Wieso sind Hirse und Buchweizen verschwunden? Und wieso ist das bedeutsam für uns?
Um diese beiden Fragen zu erhellen, müssen wir den Blick vom Teller erheben und vor allem drei Pfade verfolgen hinein ins Dickicht aus Ökonomie, Soziologie und Psychologie des Essens.
1. Die Spur der Armut
Da ist zunächst die Spur der Armut und die Beschämung der Armut. Dies ist übrigens ein ganz wichtiges Thema für alle Glutensensitiven!
Hirse wurde in vielen Regionen der Welt wertgeschätzt als kräftigend und nährend. Im deutschsprachigen Raum war die Hirse jedoch verknüpft mit Armut. Im Märchen Der süße Brei findet sich dies wieder als Umkehrung in ein Hirsebrei-Schlaraffenland.
Der Grund, warum sich die Hirse zur Armenspeise entwickelte, ist folgender Dynamik zuzuschreiben. Die armen Familien hatten auch arme Ackerböden, die für den Anbau von Weizen oder Roggen ungenügend waren. Die Hirse ist im Gegensatz zu diesen genügsamer und eine C4-Pflanze. Sie kann deshalb auch auf diesen mageren und sommertrockenen Standorten zufriedenstellend wachsen. Damit war sie von jeher der Kulturbegleiter der armen Leute.
Der Buchweizen ist ebenfalls geeignet zum Anbau auf mageren und auch moorigen Böden. Der Spruch „Den Eersten sien Dod, den Tweeten sien Not, den Drütten sien Brod“ (Übers. v. Verf.: Den Ersten ist es der Tod, den Zweiten ist es Not und den Dritten (der dritten Generation) ist es ihr Brot) illustriert die generationenlange Plackerei, bis aus einem Torfmoor überhaupt Ackerland entstand. Brot meint hier nur Nahrung ganz allgemein. Das Magenpflaster der Moorbauern war denn auch kein Brot sondern Buchweizenpfannkuchen, zumeist ohne Prütt (Kaffee mit Satz, wird traditionell dem Pfannkuchenteig zugesetzt).
Buchweizen reift zudem sehr rasch, so dass er auch in den kurzen Sommern der Gebirge zufriedenstellende Ernten bringt. Doch auch dort waren die Verhältnisse meist ärmlich. Auch der Buchweizen war also der stete Begleiter der Armen. Und da der Buchweizen wohl meist gedarrt wurde, konnte auch er nicht zu Brot verbacken werden.
Eine romantisierende Darstellung bäuerlicher Armut (Anton Seitz 1829 – 1900; mit freundlicher Genehmigung Eva-Maria Engl, MA.)
Unser tägliches Brot gib uns heute
Wer also Brot hatte, der hatte zumindest bessere Verhältnisse, und wer sogar das helle Weizenbrot auf dem Tisch hatte, der gehörte zur Oberschicht. Weizenbrot war zumeist sogar durch Gesetze dem Adel vorbehalten. Bauern mussten es zwar anbauen, aber es als Zehnt abliefern.
Wer also nur Brei und Pfannkuchen mit Prütt auf dem Tisch hatte, war arm. Und wer arm war, wurde (und wird) auch noch massiv benachteiligt und beschämt. Deshalb versuchte jeder, seine Armut zu verbergen und Brot zu essen. Das begründete auch den Hype ums (Weizen-)Brot und den Niedergang der Hirse-Buchweizen-Brei-Kultur in Mitteleuropa.
Anmerkung: ungedarrter Buchweizen lässt sich zu wunderbarem Brot verarbeiten. Ein Rezept finden Sie unter Bernhards Buchweizenbrot
Machen wir uns also bewusst, dass in Europa eine bäuerliche Unterschicht seit jeher glutenfrei lebte neben einer glutenessenden Oberschicht und einer glutenarm lebenden Mittelschicht. Einmal hineingeboren, gab es kaum ein Entkommen aus dem jeweiligen Stand. So haben sich die genetischen Verhältnisse innerhalb der Familien fortgesetzt bis ins 19. Jahrhundert. Wer also kein Gluten verträgt, hatte vermutlich auch Vorfahren, die glutenfrei oder glutenarm lebten.
Die Mengenorientierung der modernen Landwirtschaft
Die europäische Ernährung war über Jahrhunderte geprägt vom Zuwenig an Essen. Ein zweiter entscheidender Grund für das Verschwinden der Hirse-Buchweizen-Kultur ist daher das intensive Bestreben, höhere Erntemengen auf den Feldern zu erzielen. Südlich der Alpen war die Hirse deshalb bereits ab dem Beginn der Neuzeit durch den Mais verdrängt worden. Mais bringt höhere Erträge und ist manuell leichter aufzubereiten. Wo in den tradierten Rezepten heute Mais verwendet wird, ist ursprünglich wohl Hirse verwendet worden. So scheint in der Polenta deutlich die Herkunft von einem Hirsebrei-Gericht auf. (Belege hierzu fehlen mir leider noch.)
Ab Mitte des 19. Jahrhunderts kamen dann die Interessen der neu entstehenden Industrie hinzu. Und da konnten Buchweizen und Hirse nicht mithalten, denn ihre Hektarerträge sind im Vergleich niedrig. Auch Kunstdünger und Pestizide verbessern die Erträge nur wenig. In Deutschland verdrängten so neue Getreidesorten und Kunstdüngung die Hirse. Der Buchweizen musste vielfach der Kartoffel Platz machen. Die geringere Vitalstoffdichte der glutenhaltigen Getreide wird dabei bis heute nicht prinzipiell hinterfragt. Buchweizen und Hirse blieben auf der Strecke.
Die Hegemonie der USA (Exeptionalismus)
Das Kriegsende und die Besatzungszeit ab 1945 war mit einer weiteren Umwälzung der Ernährung verbunden. Der verlorene Krieg wurde als Zeichen der Unterlegenheit der deutschen Kultur interpretiert. Damit wurden die Parolen aus USA zur Richtschnur in Deutschland. Seitdem prägt der US-amerikanische Exeptionalismus auch unsere Esskultur. Fleisch, Zucker und Weißbrot wurden zum Inbegriff dieser »überlegenen Esskultur«. Auch unsere sogenannte moderne Ernährung ist noch immer ein Produkt des amerikanischen Exeptionalismus.
Im Wesentlichen ist die Grundannahme dahinter, dass man um so kultivierter sei, je mehr man sich von Raffiniertem, Tierischem und Brot ernähren würde. Ob Low Carb oder moderne Mischkost … all diese Strömungen ordnen sich dieser Grundannahme (Frame) unter. Auch Strömungen wie der Veganismus sind derzeit noch Anti-Bewegungen und bewegen sich immer noch innerhalb dieser Grundannahme.
Orale Selbstbestimmtheit
Was bedeutet dies nun für uns in der Ernährung bei Hochsensibilität?
Diese Grundannahmen und die ererbten Hunger- und Armutserfahrungen durchweben unseren Alltag als ständige kleine Einschränkungen. Sie lenken unsere Schritte in ganz bestimmte Richtungen. Auch beim Essen. Ein kleiner Realitätscheck:
Was fällt Ihnen spontan zu »glutenfrei« ein? War es »kein Brot«?. Dann zeigt Ihnen dies den Frame, denn tatsächlich gibt es so eine Fülle von Alternativen, dass Brot einfach unbedeutend ist. Ja, aber …. alles was Ihnen gerade als »Ja-aber« einfällt, verteidigt diese Selbstbeschränkung und die Grundannahme dahinter.
Spätestens mit dem unbestimmten Unwohlsein oder mit dem kategorischen NEIN! der Unverträglichkeit fordert uns das Leben auf. Armut, Hunger und anderes in unserem täglichen Essen wollen geschmeckt und hinterfragt werden. Wir sind aufgefordert, uns mit den Glaubenssätzen und Grundannahmen dahinter zu befassen. Unsere Wurzeln neu zu entdecken … und daraus eine ganz eigene Esskultur wachsen zu lassen.
- Was bedeutet es in meiner Familie, arm zu sein?
- Welche Armuts- und Hungertraumen habe ich ererbt?
- Welche Grundannahmen habe ich dabei übernommen?
- Wie wirkt dies in meinem Alltag weiter?
- Wo stimme ich dem Überlegenheitsdenken zu?
- Wo bleibe ich in der Rebellion hängen?
- Wo nehme ich deshalb meine Essbedürfnisse zurück?
- Was bedeutet Selbstbestimmtheit beim Essen für mich?
Wenn Sie nun Lust verspüren Ihre eigene orale Selbstbestimmtheit gemeinsam zu entdecken, dann werden unsere Seminare ein Schritt auf diesem Weg sein. Mehr …
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