Beidhändigkeit und Hirnentwicklung

Bereits vor längerem habe einen Beitrag über grundlegende Aspekte der Beidhändigkeit verfasst vor dem Hintergrund der Lehre von Frau Dr. Sattler: Beidhändigkeit und das neue Sattler’sche Gesetz … rechtshändig, linkshändig oder gestört? Beidhändigkeit geht nach meiner Wahrnehmung häufig mit einer Begabung bzw. Hochbegabung einher. Dieser Beitrag verbindet diese Gedanken deshalb mit Erkenntnissen aus der Begabungsforschung:

Beidhändigkeit geht offenbar einher mit einer verlangsamten Festigung der Händigkeit als Zeichen einer besonderen Hirnentwicklung.

Was gut werden soll, braucht seine Zeit!

Mir selbst wurde immer gesagt, dass ich ein »Spätentwickler« sei. Das hatte damals durchaus den negativen Beiklang der Unfähigkeit. – Liebe Eltern, seid beruhigt, das Gegenteil hat sich schließlich bewahrheitet. – Wiederbegegnet ist mir dies nun im Schriftwechsel mit der Mutter eines beidhändigen Kindes. Darin kommt eine besondere Dynamik ans Licht, der ich selbst bislang wenig Beachtung geschenkt habe. Den Schriftwechsel teile ich weiter unten anonymisiert und editiert. Er veranschaulicht beipielhaft die grotesken Folgen der gängigen therapeutischen Praxis für BeidhänderInnen. Um die Aussagen darin richtig verorten zu können, gibt es zunächst ein bisschen »Hirnfutter«.

Wozu hat man zwei Hände?

Beidhändigkeit geht offenbar mit einer verlangsamten Festigung der Händigkeit einher. Das war bei mir so und offenbar ist das auch bei anderen Beidhändern so. Ich konnte bei Schuleintritt mit beiden Händen etwa gleich gut schreiben, malen etc. Nun ja, ich fand das ziemlich naheliegend, sehr nützlich und logisch. Wozu hat man denn zwei Hände, wenn man sie dann nicht benutzt? Die Lehrerin war da konservativer und so musste dann mit rechts schreiben. Ich hatte oft Krämpfe in der Hand vom Schreiben. Aufsätze waren eine Tortur. Rechts schreiben ist bei mir viel »kopfgesteuert« und wenig automatisiert, weil es nicht meiner inneren Ordnung entspricht. Heute tue ich mir das nicht mehr an. Längere Texte schreibe ich am Computer – entspannt und beidhändig. Kurze Notizen mache ich mit der Hand, die gerade frei ist.

Begabung und Hirnentwicklung

Diese spätere Festigung der Händigkeit stimmt gut überein mit den Erkenntnissen der Begabungsforschung. Bei Hochbegabten ist die Hirnreifung insgesamt ausgedehnt bis in die Pubertät. So berichten Philip Shaw und sein Team davon, dass bei Hochbegabten die größte Dicke der grauen Substanz (Cortexdicke) erst zwischen dem 11. und 12. Lebensjahr erreicht wird. (P. Shaw et al. Intellectual ability and cortical development in children and adolescents, 2006)
Dagegen wird dieser Punkt bei Normalbegabten bereits mit rund 6 Jahren erreicht. Die danach einsetzende Verminderung der Cortexdicke wird als Hinweis verstanden, dass dann feste Muster diese Fähigkeiten übernehmen. Dadurch braucht man weniger graue Substanz und gewinnt Effizienz.

Bei Normalbegabten erfolgt die Festigung der Händigkeit dadurch bereits mit dem Schuleintritt. Und dies entspricht der allgemeinen Erwartung im pädagogisch-therapeutischen Bereich. Bei Hochbegabten ist diese Entwicklung jedoch über das 11. Lebensjahr hinaus verlängert. Nun mag man einwenden, dass Beidhändigkeit zunächst eine motorische Begabung darstellt. Jedoch haben auch solche anderweitig Begabten hohe Werte in IQ-Tests gezeigt. Aus der Zusammenschau der Forschungsdaten leitet sich daher die Faustregel ab:

je höher die Begabung, desto später die Festigung der Befähigung.

Diese Erkenntnis leitet über zu der Wahrnehmung, dass die Festigung der Handlungsmuster bei Beidhändigkeit tendenziell später geschieht. Falsch ist mithin die Annahme, dass dies auf eine »Rechts-links-Verwirrung« oder eine Entwicklungsverzögerung (Retardierung) hinweist. Vielmehr ist hier eine abweichende Hirnentwicklung im Gange, die am Ende sogar ein MEHR verspricht.

Die Verwirrung ist groß

Wie im Beitrag Beidhändigkeit und das neue Sattler’sche Gesetz … rechtshändig, linkshändig oder gestört? bereits ausgeführt, beruhen die Lehrmeinungen von Frau Dr. Sattler auf dem längst widerlegten Hemisphärenmodell. Danach sind alle Nicht-Rechtshänder automatisch Linkshänder. Und Pädagogen wie Therapeuten erwarten, dass die Händigkeit auch bereits bei Schuleintritt gefestigt ist. Nur nicht aus der Reihe tanzen! Und damit werden Beidhänder nach wie vor als zurückgeblieben und störend wahrgenommen. (Hoch)begabte Zurückgebliebene, die man »zurückschulen« müsse zu Linkshändern – welch ein Aberwitz! Aber lest selbst:

S.M.: (der Schriftwechsel ist anonymisiert und editiert): Seit 6 Monaten wird unser Sohn (8 J.) mit Hilfe einer Ergotherapeutin rückgeschult auf links, da er (laut Sattler-Testung) Linkshänder sei. Seine Klassenlehrerin empfahl uns diese Testung, da ihr seine Unkonzentriertheit und Desinteresse am Schreiben aufgefallen war. Ich bin nach wie vor nicht sicher, ob wir mit der Rückschulung das Richtige tun, da mir nie aufgefallen war, dass er Linkshänder ist.

Im Moment schreibt er mit beiden Händen fast gleich gut, er sagt, er weiß es selbst nicht, mit welcher Hand es besser geht. Wir sind sehr verunsichert, ob wir mit dieser Rückschulung nicht den größeren Schaden anrichten. Im Alltag macht er alles sonst mehr mit rechts. Er ist sonst ein sehr schlaues Kerlchen, auch sportlich sehr begabt. Seine Unkonzentriertheit in der Schule kann er gut kompensieren, er hat trotzdem gute Noten. Haben Sie mehr Literatur zum Thema, bzw. einen Tipp?

S.M.: Seine Ergotherapeutin sagt: wenn er nicht Linkshänder wäre, würde er nicht so lange mitmachen, die linke Hand zu trainieren. Andererseits, wenn es schnell gehen muss (z. B. in einem Test) nimmt er die rechte Hand. Auch beim Malen, wenn etwas schwierig erscheint, nimmt er die rechte Hand, er sagt, er will sehen, was er malt. Er sagt von sich er wäre Beidhänder. Bisher hab ich ihm widersprochen (so wie Sattler) und gesagt, das gäbe es nicht. Dann behauptet er auch oft, er sei Linkshänder (weil der Test das festgestellt hat und weil die Ergotherapeutin das sagt). Wenn ich ihn dann frage, warum er mit rechts dann aber schneller schreiben kann, hat er auch keine Antwort mehr darauf und ist ratlos. Die Verwirrung ist groß.

S.M.: Diese „Unklarheit“ bezieht sich übrigens nur auf das Schreiben, nachdem er 6 Monate mit links geübt hat. Die Rückschulung soll auch nur das Schreiben betreffen. Alles andere macht er nach wie vor mit rechts: z. B. Tischtennis, Zähne putzen, Brot schmieren. Es kann doch nicht sein, dass er sich das Rechtshändige alles abgeguckt hat, oder?

Bernhard Bühr: Wenn nach 6 Monaten »Rückschulung« noch nicht einmal klar erkennbar wird, dass Ihr Sohn linkshändig ist, dann ist er auch nicht linkshändig. Dass er damit auch nicht automatisch rechtshändig ist und am besten auch beidhändig bleiben sollte, sehe ich als die wirkliche Lösung. Wenn ein Kind ein umerzogener Linkshänder ist, dann hat sich nach 6 Monaten zumindest der Knoten im Kopf gelöst, zumal, wenn das Kind erst 2 Jahre schreibt. Das heißt, es würde ihm mit links zu schreiben subjektiv viel leichter fallen als mit rechts. Es würde sich richtiger anfühlen etc.

Dass Ihr Sohn da mitmacht kann ebenso gut bedeuten, dass es für ihn neu, interessant, also eben das »Hirnfutter« ist, das er in der Schule vermisst. Und als Beidhänder bekommt er es natürlich auch hin mit links zu schreiben. Aber das ist nicht der Sinn einer Rückschulung.
Die Bevorzugung einer Hand als Führungshand guckt man sich nicht ab, sondern sie entwickelt sich allmählich. Und natürlich muss das nicht für alle Tätigkeiten die gleiche Hand sein, vgl. Kreuzhändigkeit. So sind Beidhänder nun mal, dass sie manches rechts und manches links machen.

Unkonzentriertheit und Desinteresse sind hier eher weitere Hinweise auf eine Hochbegabung. Ich würde daher empfehlen, dem nachzugehen mit einem IQ-Test. Denn dann braucht Ihr Sohn eine angemessene Förderung, bevor er sich weiter langweilt, darüber den Anschluss an den Schulstoff verliert und »schwierig« wird. Dieses Durchlavieren in der Schule gelingt auch Begabten nur etwa bis zur 4. Klasse. Übrigens ist ein Drittel der Hochbegabten auch hochsensibel, was also ebenfalls gut passen würde.

Auch bei einem IQ unter 130 empfehle ich prinzipiell das gleiche Vorgehen. Lassen Sie ihr Kind beidhändig sein. Auch als Beidhänder wird er eine bevorzugte Seite entwickeln – hier wohl rechts.
Natürlich heißt das, dass Sie zunächst zwischen den Stühlen stehen, wo seine Lehrerin wohl auch auf diesen veralteten Ideen reitet. Wenn Sie sich jedoch da drücken und ihren Sohn im Regen stehen lassen, organisieren Sie sich an anderer Stelle Probleme.

Literatur: In meinem ersten Artikel habe ich die Originalstudie verlinkt. Christman und Prichard haben zwar etliche Fachartikel veröffentlicht, Bücher finde ich bislang keine von den beiden.

S.M.: Sie sagen, das Wechseln würde Ermüdungserscheinungen entgegenwirken, aus dem Grund dürfe er wechseln, wie er will? Das klingt alles sehr interessant und auch sehr plausibel, das passt alles viel mehr zu meinem Kind, als das konsequente »Rückschulungsmodell«, mit dem ich die ganze Zeit Bauchschmerzen habe. Zwischen den Stühlen zu sitzen ist okay. Das schaffen wir schon.
Also mache ich ihm in Zukunft die Ansage, er darf ganz nach seinem Gefühl entscheiden, wann er mit welcher Hand schreiben will. Das klingt für mich sehr gut. Ich traue ihm eigentlich auch zu, dass er sich selbst diesbezüglich einschätzen kann. Aus welchem Grund sollte er auch sonst so wechseln?

Die Ergotherapeutin sagt, bis zu den Osterferien soll er sich entschieden haben, ob rechts oder links. Auch hat sich die Unkonzentriertheit nicht gelegt, seit er mit links schreibt, so es wie die Hoffnung der Lehrerin war. (Hinweis dafür, dass Unkonzentriertheit nicht von der »falschen Schreibhand« kommt, so wie Frau Sattler es beschreibt).