Das Aktivierungs-Sensitivierungs-Modell der Hochsensibilität
Bei der Hochsensibilität tritt sowohl eine stärkere und anhaltendere Aktivierung als auch eine überdauernde Sensitivierung auf … unabhängig von Stressfaktoren. Dies betrifft sowohl das Gehirn (ZNS) als auch das Bauchhirn (ENS). Dieses Wechselspiel von Aktivierung und Sensitivierung ist zentral für die Hochsensibilität und wird veranschaulicht im Aktivierungs-Sensitivierungs-Modell. Stress wirkt bei diesem Geschehen nur als Verstärker. Manche Autoren übersehen das Grundgeschehen und beziehen die Beschwerden ausschließlich auf den Stress. Schade!
Da Neurotransmitter nicht nur im Gehirn, sondern im gesamten Körper der Kommunikation dienen, wirkt sich die Hochsensibilität auch auf den Körper als Ganzes aus. Wenn wir die körperlichen Erscheinungen also nicht länger auf die Allerweltsformel »Stress« reduzieren, erlaubt uns der detailliertere Blick, wirksame Strategien für ein gesundes Leben mit Hochsensibilität abzuleiten.
Wie kommt es zur Hochsensibilität?
»Gleißende Sommersonne, Blätterrauschen, ein paar Vögel zwitschern und von Ferne wabert Brummilärm herüber – wir nehmen überall Reize auf, die als Nervenimpulse weitergeleitet werden. Mit Hilfe von Neurotransmittern werden diese Reize abgeschwächt oder verstärkt und schließlich zu Wahrnehmungen verknüpft. Auf diese Weise wirken Neurotransmittersysteme wie Filter in der Reizverarbeitung. Hochsensibilität ist nun nicht einfach »ein Leben ohne Filter«. Vielmehr nehmen wir mehr Details bewusst wahr und die Gewöhnung an Reize ist geringer. Obwohl ich also gerade darüber brüte, wie ich Dir die komplexen neurologischen Zusammenhänge dahinter möglichst einfach erklären kann, nehme ich die Fernstraße wahr wie am ersten Tag, registriere ich, dass der Kühlschrank startet usw. Was für Normalsensible zu einem Hintergrundrauschen verschmilzt, bleibt beim Hochsensiblen erhalten als detailreiche Wahrnehmung … auch beim fünfzigsten Mal noch. Warum?« (Bernhard Bühr, Eva-Maria Engl – Ernährung für Hochsensible, erscheint 02/2019 bei Gräfe und Unzer).
Stärkere und anhaltendere Aktivierung
Bianca P. Acevedo und Jadzia Jagiellowicz haben mit ihren MRT-Studien bereits gezeigt, dass das Gehirn von Hochsensiblen Reize anders verarbeitet. Die Erregung ist stärker und anhaltender als bei den normalsensiblen Kontrollpersonen. Ein weiteres wichtiges Puzzleteil zu diesem Wie kommt es zur Hochsensibilität? haben Chunhui Chen und sein Team gefunden. Hochsensibilität ist verknüpft mit genetischen Besonderheiten, die direkt das Dopamin-System betreffen. Dopamin aktiviert, motiviert, schenkt Lust und ist deshalb unverzichtbar für Lernen, Aufmerksamkeit, Wachheit und diverse andere Hirnleistungen. Ähnliches leistet das Dopamin jedoch auch außerhalb des Gehirns, z. B. in den Bauchorganen, in den Hormondrüsen und im Immunsystem. Wenn wir also wieder mal Feuer und Flamme sind für eine Idee oder sonst Schmetterlinge im Bauch haben, dann fühlen wir die Wirkung unseres Dopamins. Du ahnst es bereits, wir Hochsensible sind sehr leicht aktivierbar in unserem Dopamin-System.
Überdauernde Sensitivierung
Zudem gewöhnen wir uns auch noch viel weniger an wiederholte Reize (Dyshabituation). Und Dopamin ist nicht allein. Auch Histamin mischt hier als Neurotransmitter mit. Naheliegend, dass viele Hochsensible auf Histamin »hoch sensibel« reagieren. Wir sind also innerlich leicht ein bisschen »auf dem Sprung« und leicht gestresst durch monotone Geräusche. Der tropfende Wasserhahn, Basswummern, Standby-Geräusche von elektronischen Geräten, … je gleichförmiger desto nerviger. Bisweilen wird das als Angststörung missdeutet. Schon Dr. Elaine Aron hat auf diese Verwechslungsgefahr hingewiesen und betont, dass hier doch etwas substanziell anderes geschieht – nämlich eine Sensitivierung. Darunter versteht man Änderungen in den Nervenzellen, die dazu führen, dass die Nervenzellen noch leichter und anhaltender erregt werden können und mehr Neurotransmitter freisetzen.
Ein stärkeres Erregtwerden braucht dann auch eine stärkere Beruhigung. Das tägliche Feuerwerk der Gefühle und Wahrnehmungen betrifft also auch die beruhigenden Botenstoffe (GABA, Serotonin, Melatonin, Glycin, Oxytocin).
Die Wirkung von Stress bei Hochsensibilität
In einem harmonischen Dasein kann die Erregung wieder zurückkehren zur Mitte und man bleibt auch mit Hochsensibilität in Balance. Doch das Leben in der Postmoderne ist längst nicht so harmonisch wie wir das brauchen. Kommen nun Stressfaktoren dazu, dann kehrt die Erregung nicht mehr ganz zurück und die Sensitivierung vertieft sich. Je mehr sich die Erregung aufbaut durch Stressfaktoren, desto mehr vertieft sich auch die Sensitivierung. Früher oder später treten dann Beschwerden auf. Ein typischer Endpunkt einer Überstimulation ist Migräne. Das Gehirn wird immer weiter stimuliert, bis der Körper ein Nofallprogramm auslöst. Das Gehirn macht eine Art Reset in Form einer Entladungswelle. Prof. Matthias Keidel hat die neurologischen Grundlagen dazu in seinem Buch Migräne: Ursachen, Formen, Therapie, 2007, dargestellt.
Die Sensitivierung bewirkt, dass auch »ganz normale« Nahrungsmittel nicht mehr vertragen werden. Vertieft sich die Sensitivierung, dann zeigt sich das z. B. als Reizdarm. Typisch dabei ist das veränderliche Beschwerdebild. Man isst etwas und verträgt es zunächst. Doch nach einiger Zeit verträgt man es nicht mehr. Oberflächlich betrachtet scheinen die Beschwerden auch hier am Stress zu liegen, doch bestehen sie auch in ruhigen Zeiten weiter, denn die Sensitivierung ist überdauernd.
Nun ist der hochsensible Körper aber nicht einfach »empfindlicher«. Vielmehr sind es vor allem ganz bestimmte Dinge, die uns stressen. Am meisten stresst Hochsensible alles, was das Dopamin-System aktiviert. Zu den dopamin-aktivierenden Substanzen (Dopamin-Agonisten) gehören auch so »normale« Dinge wie Gluten und Kasein. Mehr zu Guten und Dopamin Wenn wir als Hochsensible also »ganz normal« essen, dann bedeutet das für uns einen substanziellen – und unnötigen – Grundstress. Generell kann uns das Aktivierungs-Sensitivierungs-Modell helfen, die körperlichen Reaktionen bei der Hochsensibilität besser zu verstehen und letztlich auch besser mit ihnen umzugehen.
Mehr zu diesen Themen finden Sie bald in unserem Buch (Bernhard Bühr, Eva-Maria Engl M.A. – Ernährung für Hochsensible, erscheint 02/2019 bei Gräfe und Unzer, ISBN 978-3-8338-3-6834-4)
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