Süchtig nach Gluten?
Macht Gluten wirklich süchtig? Gibt es eine Verbindung zwischen Glutensensitivität und süchtigem Verlangen nach Gluten? Und wie wirkt sich Hochsensibilität dabei aus?
Bier macht glücklich
Pünktlich zum Münchner Oktoberfest machte ein Presseartikel der Friedrich-Alexander-Universität die Runde durch die Medien. Unter dem Titel Bier macht glücklich wurde stolz präsentiert, dass Hordenin aus der Gerste Dopamin-Rezeptoren im Belohnungszentrum aktiviert.
Ich stimme hier zunächst durchaus denen zu, die das Publizieren von solchen Wissenschaftskrümeln kritisch betrachten. Natürlich ist die Meldung an sich banal. Ein Presseerfolg war sie vor allem durch die geschickte Plazierung. Es liegt mir auch fern, hier der bier-bayrischen Lesart der Presse das Wort zu reden à la „Juhu, sauft Euch glücklich!“ Doch schütten wir nicht die Erkenntnis mit dem Bier weg. Diese kleine Entdeckung ist nämlich ein wissenschaftliches Goldklümpchen, denn … Hordenin ist das Gluten der Gerste. Und damit hat man so ganz nebenbei wissenschaftlich bewiesen, dass Gluten potentiell auf die D2-Rezeptoren im Gehirn wirkt. Und … weiter gedacht … wurde damit auch im Ansatz nachgewiesen, was Glutensensitive schon lange berichten: Gluten kann süchtig machen.
Kann Gluten wirklich süchtig machen?
Da springt meine Erinnerung zurück zu der Zeit, als ich mich selbst konsequent vom Gluten verabschiedet habe. Ich hatte damals verstanden, dass mein Reizdarm nur mit einem 100-prozentigen Gluten-Verzicht in den Griff zu bekommen war. Also packte ich das an … und hatte mehrere Wochen lang massives Verlangen nach Weißbrot. Nur mühsamst konnte ich mich davon abhalten, nicht doch ein paar Krümel vom Baguette zu naschen. Es war eine echte Übung in Selbstdisziplin. Ich hatte richtiges Craving (starkes Substanzverlangen), wie man das von Rauchern und Alkoholikern kennt. Dieses starke Verlangen ist ein ganz typisches Entzugssymptom. Und ob man süchtig ist, merkt man am ehesten am Entzug. Rückblickend ist meine strikt glutenfreie (und kaseinfreie) Kost übrigens ein voller Erfolg. Mein Reizdarm hat sich vollständig zurückgebildet.
Süchtig auf Gluten und Glutensensitivität
Doch wie kann man überhaupt süchtig auf Gluten werden, wenn man zugleich glutensensitiv ist? Die naheliegende Antwort ist: beides geht Hand in Hand. Und diese „gemeinsame Wurzel“ scheint mir die Wirkung von Gluten auf die Dopamin-Rezeptoren zu sein.
Mehr zu den Unterschieden zwischen Glutenallergie, Glutensensitivität (= Glutenintoleranz) und Zöliakie findest Du unter Glutenallergie, Glutensensitivtät und Zöliakie … was ist was?
Die Hypothese etwas ausführlicher
D2-Rezeptoren sind die Rezeptoren, die normalerweise durch Dopamin aktiviert werden und im Belohnungszentrum des Gehirns für Gefühle von Freude und Motivation sorgen. Und sobald die Freude versiegt, motiviert uns das Belohnungszentrum dazu, für Nachschub zu sorgen. Wenn das Belohnungszentrum anhaltend stark aktiviert wird, dann reguliert der Körper diese Reaktion jedoch herab und man fühlt sich unter Normalbedingungen anschließend weniger glücklich. Man hat also einen Durchhänger und will erst recht seinen Freudenbringer. Wenn man seinen Oktoberfest-Kater dann mit Bier „kuriert“, ist man bald in einem Strudel. Immer mehr Stimulation durch die Droge und immer weniger Wohlbefinden im Normalzustand führen in die Sucht. Dieser Mechanismus wird inzwischen als zentraler Angelpunkt für die Entstehung jeder Sucht angesehen. Das gilt prinzipiell auch für Gluten.
Zugleich regulieren D2-Rezeptoren jedoch auch verschiedene Aspekte der Magen-Darm-Aktivität. Werden diese Rezeptoren stärker angeregt, kommt es beispielsweise zu Übelkeit und Erbrechen. Auch die Entleerung des Magens wird dann beschleunigt. Und damit kommen wir einer sinnvollen Erklärung näher, wie Gluten zugleich Bauchschmerzen und Sucht verursachen könnte. Es handelt sich also um eine Art Nebenwirkung des Glutens. Und wie bei Nebenwirkungen allgemein üblich, sind bei weitem nicht alle Menschen davon betroffen. Und längst nicht jeder wird glutensüchtig.
Die Rolle der Glutensensitivität
Gluten wirkt sowohl direkt auf Dopamin-Rezeptoren als auch indirekt über sogenannte Gliadorphine. Dies sind Peptide mit opiatartiger Wirkung, die bei der Verdauung von Gluten entstehen. Die Glutensensitivität (Nicht-Zöliakie-Glutensensitivität, Glutenintoleranz) nun ebenfalls als eine Art Nebenwirkung des Glutens aufzufassen, hilft die typischen Beschwerden zu verstehen. (Weitere Wirkungen über das Immunsystem und das Endorphin-System bleiben hier vereinfachend unerwähnt.)
So kann man damit verstehen, warum man während der regelmäßigen Belastung mit Gluten vergleichsweise weniger Beschwerden hat. Es tritt eine Herabregulation auf, wie sie bei jeder anhaltenden Stimulation von Rezeptoren auftritt. Eben dieser Effekt verschleiert in der Praxis oft das Bestehen der Glutensensitivität. Man merkt ja „eigentlich gar nix“. Nur immer so ein komisches Gefühl im Bauch und eben Symptome wie Migräne, Regelschmerzen, Magenschmerzen und einiges anderes, das damit nicht in Zusammenhang gebracht wird. Durchfall? „Ja, auch. Aber das ist ja nicht so schlimm.“ Dabei wird durch die Sensitivität auch die Darmschleimhaut geschädigt und so werden immer mehr Gliadorphine und Gluten aufgenommen. Damit eskaliert das Problem allmählich immer weiter.
Ringt man sich dann zu einer glutenfreien Kost durch, regenerieren sich die Rezeptoren. Doch damit reagiert der Genesende erst mal stärker auf erneute Glutenbelastungen als er das gewohnt war. Für mich ist dies stets eine Bestätigung dafür, dass tatsächlich eine Sensitivität besteht. Für die Betroffenen ist es natürlich ein irritierendes Erleben. „Oh Gott, werde ich jetzt noch empfindlicher?“ Nein, die tatsächliche Empfindsamkeit kehrt zurück. Und dabei kommt es gelegentlich auch zu überschießenden Reaktionen, bis sich das System schließlich einpendelt.
Zwischen Verlangen und Bauchweh
Die Rezeptor-Hypothese der Glutensensitivität hilft uns auch, die paradoxen Dosis-Wirkungs-Beziehungen zu verstehen. Einerseits können bereits geringe Mengen die Reaktion auslösen. Einen Rezeptor kann man aktivieren. Dazu reicht eine sehr kleine Dosis aus. Mit einer höheren Dosis sollte man eine stärkere Reaktion erreichen können. Tatsächlich setzt jedoch alsbald die Gegenregulation ein. So wirken große Glutenmengen scheinbar viel schwächer. Diese Gegenregulation wirkt dann als eine Art Kater über 1 – 2 Tage nach und ist oft noch beschwerdereicher. So tritt Migräne eben oft erst am Tag danach auf und mancher fühlt sich mehrere Tage „neben der Spur“.
Folgen die Belastungen kurz hintereinander, so wird die Gegenregulation weiter verstärkt und anhaltender. Nun würde man erwarten, dass sich alsbald ein deutlicher Widerwille (Aversion) einstellt. Stattdessen zeigt sich öfters ein verstärktes Verlangen nach den glutenreichen Nahrungsmitteln. Man fühlt sich flau im Bauch und sehnt sich dennoch nach Pizza, Pasta und Kuchen. Diese Widersprüchlichkeiten im Symptomverlauf lassen sich mit dem Bezug auf die D2-Rezeptoren weit besser nachvollziehen.
Wie wirkt sich Hochsensibilität dabei aus?
An sich ist der Hochsensible auch hochempfindlich gegenüber Suchtstoffen. Das zeigt sich selbst gegenüber Alltagdrogen wie Kaffee und Alkohol. Nach nur 2 – 3 Espressi bin ich selbst überdreht und riskiere Kopfweh am nächsten Tag. Dieser Kaffee-Kater wiederum bessert sich durch weiteren Kaffee. Auch hier ist Dopamin beteiligt. Gerade diese große Ansprechbarkeit der dopaminergen Systeme macht anfällig für süchtiges Verhalten und Sucht; Auch gegenüber Substanzen, die allgemein ein geringes Suchtrisiko haben wie z. B. Kaffee oder eben Gluten.
Ob Du süchtig bist, erkennst Du also letztlich nicht an der Menge, die Du konsumierst. Du erkennst die Sucht an dem, was passiert, wenn Du Deinen Stoff eine zeitlang NICHT hast. Hast Du dann Craving, Kopfschmerz, Depressivität etc.? Dann ist eine Entscheidung fällig. Das kann bei Hochsensiblen bereits mit 2 – 3 Bier am Tag passieren.
Wenn Du jetzt einen Selbstcheck machen möchtest, dann mach Dir bitte klar, dass Gluten in einer Fülle von Produkten enthalten ist als Zusatzstoff, als natürlicher Bestandteil oder auch als Kontamination. Selbst in Lippenstift und Medikamenten kann es enthalten sein. Und am Anfang musst Du natürlich 100prozentig abstinent bleiben. Du kannst Dir dafür aber Begleitung und Beratung holen.
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